Das ewige Gemäckel über die Konkordanz und die Bundesratsform

Unsere Demokratieforschung zahlt sich offenbar aus. In Aarau existiert seit einiger Zeit ein Zentrum für Demokratie. Sein Präsident Auer bringt es fertig, kürzlich in diesem Blatt zu schreiben, es gebe ‚weltweit kaum ein Regierungssystem, das bis in seine letzten Verästelungen die Flucht vor der politischen Verantwortung so konsequent umgesetzt habe wie das helvetische’. Wie bitte? Übernehmen die Stimmberechtigten bzw. das ‚Volk’ mit dem Referendum, die relativ autonomen Gemeinden und Kantone denn nicht in exemplarischer Weise politische Verantwortung?

Und der Zürcher Politologe, Hanspeter Kriesi, meinte überraschender-weise, das ‚Schweizer Parteiensystem sei heute polarisierter als alle anderen Parteiensysteme Europas und das Festhalten an der Konkordanz führe zu einem Verlust an Transparenz, Glaubwürdigkeit und Vertrauen’. Wie kann man solche ‚Hypothesen’ bewahrheiten? Er will ‚klare Verhältnisse’ schaffen, um die demokratische Qualität der Schweizer Politik zu verbessern. Sagt aber nicht wie.

Die Universität Zürich bildet derzeit grosszügigerweise über 1000 Polito-logen aus und dort verglich man kürzlich zur Abwechslung die Schwei-zer Demokratie mit ‚Honolulu’ und vielen anderen. Die Herren hätten die Qualität unserer Verhandlungsdemokratie besser mit Belgien, Österreich, Holland oder Dänemark konfrontiert. Vor allem das auch zweisprachige Belgien ‚lässt (nicht) grüssen’. Alle jene Koalitionsregierungen mit Proporz haben ganz massivere Handlungsprobleme als wir.

Auer plädiert für die Volkswahl des Bundesrates, schwadroniert dazu locker über eine ‚Gesamtreform unseres Regierungssystems’ und macht damit Propaganda für eine Blocherisierung der Schweiz. Solche Mega-postulate kann man nur entweder in Ägypten oder in einem Land aus-rufen, in dem keine wirklichen Gefahren und Regierungsprobleme bestehen, wie bei uns. Aber unser Regierungssystem ist eine komplizierte Mischung aus dem amerikanischen Präsidialsystem, wo der Staatschef vom Volk gewählt wird, und den halbparlamentarischen Parteienstaatsdemokratien der anderen europäischen Kleinstaaten. Hinzu kommen ein ausgebauter Föderalismus und das direktdemokratische Element. Damit ist unser politisches System tatsächlich ausserordentlich komplex. Das hat ohne Zweifel seine politischen Kosten (wie jedes andere auch). Aber der Nutzen ist grösser, wie die Verhältnisse zeigen. Und Politik ist nun einmal die ‚Notwendigkeit zu kollektivem Handeln bei (normalerweise) nicht vorzussetzendem Konsens’ (Fritz Scharpf), auch in der sogenannten Konkordanz-, besser Verhandlungsdemokratie, und beides, der Konsens bzw. die Konkordanz, werden immer schwieriger.

Auer klagt über die ‚Betonierung des bestehenden längst entzauberten Modells’ der Konkordanz und hält eine Volkswahl sogar für ‚notwendig’. (‚Zauberhaft’ war die Konkordanz nie, man hat ihr das nur zugeschrieben. Deshalb darf man so nicht immer polemisieren.) Und wie die Volkswahl vernünftigerweise bewerkstelligt könnte, sagt er nicht. Wie soll denn bei einer Volkswahl des Bundesrates sichergestellt werden, dass die Sprachen, die Landesregionen, die grossen Parteien, die Geschlechter und nicht zuletzt erfahrene, kompetente und glaubwürdige Leute in unseren ohnehin institutionell starken Bundesrat gewählt werden, der von keinem Staatoberhaupt beobachtet und vom Parlament dann nicht mehr abge-wählt werden kann? Per Volkswahl geht das sicher nicht. Es sei denn, man schriebe diesen alten ‚Beton’ der Willensnation ab. Und der Verweis auf die Praxis in den Kantonen sticht nicht, weil die Verhältnisse und Probleme im Bund wesentlich komplexer und politisch existenzieller sind.

Und weiter: Wer stellt die Bundesratskandidaten auf? Darf sich jeder selbst aufstellen (lassen)? Was machen die Parteien, wenn ein Super-populist antritt, der sich vielleicht eine Zeitung samt den Journalisten oder ein eigenes Fernsehen kaufen kann oder ein ‚Postergirl’, wie die Sarah Palin in den USA? Wer zahlt die Wahlkampagnen und muss diese Finanzierung öffentlich gemacht werden? Welche Rolle soll die Arena des Fernsehens spielen? Wird der Bundesrat dann mit einer Liste gewählt und darf man darauf streichen oder kummulieren? Wer macht diese Liste, gibt es möglicherweise mehrere? Finden zweite Wahlgänge statt, wenn einer oder eine das absoulte Mehr nicht erreicht hat? Muss die Regierung in diesem Fall mit Regieren bis nach dem zweiten Wahlgang warten? Und müssen sich die Bundesräte alle vier Jahre dem Volk zur Wiederwahl stellen?

Und weiter? Was geschieht, wenn die Welschen, die Tessiner, die Sozial-demokraten, die Katholischen oder sogar der Freundeskreis Blochers keinen Sitz im Bundesrat ergattern können oder abgewählt werden oder wenn eine Partei zu viele Sitze bekommt? Wird die ‚Ohnmacht des Volkes’ (Auer) dann behoben, wird alles transparenter, gibt es ‚klare Verhältnisse’ (Kriesi) oder bekommen dann endlich eine handlungsfähige Regierung, die nicht mehr durch Referenden in Initiativen ‚geärgert’ wird? Funktioniert unser ‚miserables’ Kollegialsystem besser, wenn seine Mitglieder vom Volk gekrönte werden und kann dann der Bundes-präsident wirksamer ‚führen’? Geht die ‚Polarisierung’ unseres Parteien-systems’ mit der Volkswahl zurück und wird sich die Schweiz im Ranking der Demokratien vielleicht etwas verbessern können?

Auer macht sich auch keine Gedanken über die Auswirkungen, welche diese Volkswahl auf die anderen Einrichtungen unseres Regierungssystems haben würde. Diese riskante personalplebiszitäre Stärkung der Stellung des ohnehin institutionell starken Bundesrates wurde die Kontrollfunktion des Parlamentes erheblich erschweren, das Parlament und damit die politischen Parteien und letztlich die Wahlen ‚abwerten’. Die Personalisierung und den Medienpopulismus der Politik würde noch zunehmen.

Zu den ganz grossen Vorzügen unses ‚Rätesystems’ im Bund (und auch in den Kantonen und Gemeinden) gehört seine relative Distanz zur Parteilichkeit. Durch eine Volkswahl des Bundesrates würde die Parteilichkeit unserer Regierung zunehmen. Für die Sprachen müsste man doch einen Proproz einführen und keine Mensch weiss, wie das wirklich funktionieren würde. ‚Die Volkswahl des Bundesrates ist keine Notwendigkeit’, keine wirkliche Verbesserung der Demokratie, sondern ein unnötiges politisches Risiko der Willensnation.

Leonhard Neidhart

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